Montag, 15. Dezember 2014

Verheddere mich in einem Zettel...


Auf dem Weg zum Praktikum sehe ich ein Papier, oben festgeklebt an einem grauen und verdreckten Metallpfosten, übersäht mit scheinbar ewigen weißen Fetzen, die auf die Vergangenheit unzähliger Sticker, Zettel und Botschaften hinweisen. Kleine Nachrichten werden in der Stadt verstreut.
Ich sehe nichts als diesen Zettel und den unsichtbaren Hauch des Gesichtes, das sich entschied, seine Mitteilung den Menschen auf diese Weise sichtbar werden zu lassen. Wer sind sie, diese Gesichter? Wo kommen sie her? Wo gehen sie hin? Merkwürdige Wesen sind sie.
Haben sie diese kleinen Ausdrücke menschlicher Geschichten aus puren Witz, Impuls, Ironie oder klaren und durchdachten Motiven dort eingebettet, sodass auch sie im Laufe der Zeit den Schmutz der Luft in sich aufnehmen und so mit ihrer Umgebung perfekt verschmelzen können?
Nun. Es steht auf dieser DIN-A-4-großen, schlichten Fläche:
 'Die Schlange trinkt Milch und gibt Gift. Der Heilige trinkt Gift und gibt Milch.'

Ich bin mir sicher, dass hinter dieser Aussage eine Überzeugung und ein Erfahren steckt.
Trotzdem mag ich sie nicht besonders, aus mehreren Gründen.
...
...Und jetzt fällt mir gerade auf, dass es noch mehr Arten gibt, diesen Spruch zu verstehen, als ich es bisher getan habe. Ich dachte gerade, dass es eigentlich keine direkte negative Assoziation in Bezug auf die Schlange gibt. Ah, ja. Die Aussage ist an sich neutral. Sie malt ein Bild.
Es ist ein Kreislauf. Es ist ein Gesamtbild. Ich hatte die beiden Sätze zunächst nur separat wahrgenommen.
Ich sehe die Schlange nicht als die Menschen, die bereitwillig ihr Gift in der Welt versprühen, wahl-, ziel-, und gedankenlos. Die Schlange ist, lässt man mal die ganzen christlichen, furchtverbreitenden Verteufelungen beiseite, ein Wesen, mit Giftzähen ausgestattet, weil das Leben sie ihr nun einmal gegeben hat.
Sie sind zum überleben da, nicht zum Quälen.
Ich kann es nicht leiden, wenn Menschen Schlangen mit dem Bösen gleichsetzen.
Das, was wir Menschen schaffen, kann uns kein anderes Tier nachmachen.
Aber sehen wir die Schlange trotzdem mal als Metapher an, nur ohne sie mit allen uralten Vorurteilen zu belasten.
Es scheint ein Ungleichgewicht zu herrschen. Die Schlange trinkt Milch und gibt Gift. Sie nimmt sich das, was uns hier nahrhaft erscheint und gibt uns dafür nichts zum Ausgleich. Schlimmer noch, sie gibt uns stattdessen Lähmung, Verderben und Tod. Und stünde die Schlange nun alleine da, ohne ein Gegengewicht, würde es vielleicht auch darauf hinauslaufen, sie kann ja auch gar nicht anders, wenn sie nicht in einem Prozess eingebunden ist.
Sie ist eine Schlange, es ist ihre Natur.
Das Gleichgewicht stellt sich erst durch den 'Heiligen' ein. Er schafft es, das Gift der Schlange zu nehmen und ihr im Gegenzug wieder Milch zu geben. Deswegen wollte ich von Anfang an klarstellen, dass ich die Schlange nicht als etwas grundsätzlich Schlechtes ansehe. Denn sonst könnte man an dieser Stelle verzweifeln. Etwas Schlechtes will man nicht füttern, man will, dass es verschwindet und sieht nun vor sich einen immerwährenden Kreislauf, in dem die Schlange erhalten bleibt.

Es ist gut, denn es herrscht Balance. Die Schlange liefert keinen Grund, bekämpft zu werden. Es macht keinen Sinn. Auf das Gift folgt die Milch und auf die Milch das Gift.
Stärken entstehen, nicht weil wir unsere Schwächen ausradieren, sie bekämpfen, sondern weil wir ihnen entgengentreten, lernen, ihr Gift zu nehmen und daraus Milch zu machen.
Jeder trägt den Prozess des Heiligen und der Schlange in sich. Aus dem harmonischen Kreis wächst das Selbst herauf und erblüht. Sieht man von oben auf den Kreis, lässt sich keine Bewegung erkennen, doch inneres Gleichgewicht ist das Gegenteil von Stillstand.
Sieh seitlich auf den Kreis. Es ist eine Spirale.
Man braucht das Gift, um Milch zu bekommen. Milch für das Gift, damit wieder Milch entstehen kann.
Gerät es allerdings aus dem Gleichgewicht, besteht Gefahr, vergiftet zu werden. Gibt es zu wenig Gift, wird es auch zu wenig Milch geben, auch wenn manche dann trotzdem behaupten, sie hätten Milch im Überfluss und keine Spur von Gift.
Auch dieser Zustand gehört hin-und wieder zum Leben. Er ist nicht permanent. Ich meine, wir lernen und versuchen unser ganzes Leben, mit uns und anderen ins Gleichgewicht zu kommen.
Es ist nicht einfach. Es braucht Zeit. Es tut weh.
Aber es ist gut.
Jeder von euch hat seinen ganz eigenen Weg. Sie sind alle wunderschön, nicht, wegen ihrer Einzelteile, sondern im Gesamten. Das Gesamte seid ihr. Nicht Einzelteile. Nicht all die schlimmen Ereignisse, nicht die ungerechtfertigten Dinge, die euch andere aufgebürdet haben. Ihr seid nicht eure Vergiftung.
Ihr seid wunderschön, einfach nur, weil ihr. Hier. Jetzt. Seid. Mit Vergangenheit und Zukunft genau in diesem Moment.
Danke, dass du weiteratmest, auch wenn du vielleicht schon nicht mehr willst.
Danke, dass du existierst.

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